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Sind die Jäger schuld an der Wildschweinschwemme?

Verfasst: So 15. Nov 2009, 12:42
von Leserbrief
Derzeit ist in allen Zeitungen von einer "Wildschweinschwemme", gar von einer "Wildschwein-Plage" zu lesen. Doch obwohl in Deutschland so viele Wildschweine geschossen werden, wie noch nie seit Beginn Aufzeichnungen in den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, steigt die Anzahl der Wildschweine weiter.

Ist die Lösung des "Wildschweinproblems", noch mehr Tiere zu schießen? Oder ist gerade die intensive Jagd auf Wildschweine das Problem? Denn so paradox es klingen mag: Je mehr Jagd auf Wildschweine gemacht wird, um so stärker vermehren sie sich. Auf diesen Zusammenhang weisen immer mehr Wissenschaftler hin. Und zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuell publizierte französische Langzeitstudie: Starke Bejagung führt zu zu einer deutlich höheren Fortpflanzung und stimuliert die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen.

Die Wissenschaftler um Sabrina Servanty verglichen in einem Zeitraum von 22 Jahren die Vermehrung von Wildschweinen in einem Waldgebiet im Departement Haute Marne, in dem sehr intensiv gejagt wird, mit einem wenig bejagten Gebiet in den Pyrenäen. Das Ergebnis wurde nun im renommierten "Journal of Animal Ecology" veröffentlicht: Wenn hoher Jagddruck herrscht, ist die Fruchtbarkeit bei Wildschweinen wesentlich höher als in Gebieten, in denen kaum gejagt wird. Weiterhin tritt bei intensiver Bejagung die Geschlechtsreife deutlich früher - vor Ende des ersten Lebensjahres - ein, so dass bereits Frischlingsbachen trächtig werden. Auch das Durchschnittsgewicht der erstmalig fruchtbaren Wildschweine ist bei hohem Jagddruck geringer. In Gebieten, in denen wenig Jäger unterwegs sind, ist die Vermehrung der Wildschweine deutlich geringer, die Geschlechtsreife bei den Bachen tritt später und erst bei einem höheren Durchschnittsgewicht ein. (vgl. Servanty et alii, Journal of Animal Ecology, 2009)
Mit dieser Studie ist bewiesen, dass die starke Vermehrung bei Wildschweinen nicht auf nur vom Futterangebot abhängt, sondern auch von der intensiven Bejagung.


Stärkere Vermehrung durch die Jagd

Durch die Jagd vermehren sich Wildtiere stärker als unter natürlichen Umständen, meint auch Prof. Dr. Josef H. Reichholf, der die Abteilung Wirbeltiere der Zoologischen Staatssammlung München leitet. Würden in einem Gebiet durch die Jagd, die ja vor allem im Herbst und Winter statt findet, viele Tiere getötet, hätten die Verbliebenen ein besseres Futterangebot. "Tiere, die gestärkt überleben, pflanzen sich im Frühjahr zeitiger und zahlenmäßig stärker fort", sagt Reichholf. (Süddeutsche Zeitung, 28.01.2009)

Der Biologe Kurt Eicher von der "Initiative zur Abschaffung der Jagd" weist zudem darauf hin, dass Jäger durch legale oder illegale Zufütterungen und so genannte "Kirrungen" für ein unnatürlich hohes Nahrungsangebot für Wildschweine sorgen - und damit wiederum zur Vermehrung beitragen. So hat die Wildforschungsstelle Aulendorf errechnet, dass allein in Baden-Württemberg jährlich 4.000 Tonnen Mais allein als "Kirrung" ausgebracht werden - das sind pro erlegtem Wildschwein im Schnitt etwa 100 Kilo (!) Mais. Gerade Mais fördert nachweislich die Fruchtbarkeit von Wildschweinen. Doch Jäger argumentieren lieber, dass die hohe Zahl der Eicheln und Bucheckern in den Wäldern verantwortlich für die Wildschweinschwemme sei. Darüber kann der Biologe Kurt Eicher nur den Kopf schütteln: "Den Tieren standen im Herbst schon immer Bucheckern und Eicheln in den heutigen Mengen zur Verfügung - früher eventuell sogar noch mehr, da der Wald gesünder war."


Zerstörung der Sozialstruktur

Norbert Happ, der bekannteste deutsche Wildschweinkenner - selber Jäger - prangert an: "Die Nachwuchsschwemme ist hausgemacht". Für die explosionsartige Vermehrung der Wildschweine seien die Jäger selbst verantwortlich: "Ungeordnete Sozialverhältnisse im Schwarzwildbestand mit unkoordiniertem Frischen und Rauschen und unkontrollierbarer Kindervermehrung sind ausschließlich der Jagdausübung anzulasten", so Happ (in der Jägerzeitung "Wild und Hund", 23/2002).

Auch Wildmeister Gerold Wandel weist auf das Jagd-Problem hin: "Jetzt werden die Sauen wirklich wehrhaft! Sie wehren sich mit einer unglaublichen Zuwachsdynamik gegen den falschen, asozialen Abschuss in den Altersklassen." (Jagdzeitung PIRSCH 1/2004)


Kann die Natur sich selbst regulieren?

Die Natur hatte eigentlich alles hervorragend geregelt: Erfahrene weibliche Wildschweine - die Leitbachen - sorgen für die Ordnung in der Rotte und für Geburtenkontrolle. "Die Hormone der Leitbachen bestimmen die Empfängnisbereitschaft aller Weibchen der Gruppe und verhindern, dass zu junge Tiere befruchtet werden", so der Biologe Kurt Eicher, Sprecher der Initiative zur Abschaffung der Jagd. "Fehlen die Leitbachen, weil sie bei der Jagd getötet wurden, löst sich die Ordnung auf. Die Sozialstruktur ist zerstört und die Wildschweine vermehren sich unkontrolliert."

Ragnar Kinzelbach, Zoologe an der Universität Rostock, ist überzeugt: "Die Jagd ist überflüssig. Wenn man sie einstellt, regulieren sich die Bestände von allein." (Süddeutsche Zeitung, 28.01.2009)